“Das sexuell gefährdete Kind”: Perversionen, Normalität und das Thema Missbrauch in der westdeutschen Sexualwissenschaft, 1950–1980 (037)
Im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern führten die von den Missbrauchsskandalen in katholischen und anderen Institutionen ausgelösten Debatten nur in Deutschland dazu, dass die „Neue Linke“ und die sexuelle Revolution der 1960er und 1970er Jahre als angebliche Auslöser der Sexualisierung von Kindern an den Pranger gestellt wurden. Ausgehend von dieser merkwürdigen Besonderheit sowie dem viel diskutierten Phänomen, dass sich breite linksliberale Kreise erst mit Verspätung von den Forderungen pädophiler Organisationen distanziert haben, untersucht dieser Vortrag die Thematisierung von sexuellem Missbrauch in der westdeutschen Sexualwissenschaft der Nachkriegszeit. Der Vortrag spannt den Bogen von christlich-konservativen und ehemals national-sozialistischen Autoren um Hans Bürger-Prinz über den prominenten progressiven Psychiater Eberhard Schorsch bis hin zur Intervention des radikalen Sexualrechtsaktivisten Günter Amendt.
Dagmar Herzog ist Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University of New York. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen in der Moderne und besonders der Holocaust und seine Nachwirkungen, sowie die Sexualitäts- und Geschlechtergeschichte, die Geschichte der Psychoanalyse, und die Geschichte der Behinderung. Publikationen u. a.: Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (2005), Sexuality in Europe: A Twentieth-Century History (2011), Cold War Freud: Psychoanalysis in an Age of Catastrophes (2017), sowie (im Erscheinen): Unlearning Eugenics: Sexuality, Reproduction and Disability in Post-Nazi Europe (2018).