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Emilia Roig

Warum ist das JAHR DER FRAU_EN so wichtig?

Es ist eine Ehre für mich, heute die Keynote zum Abschluss des Jahresprogramms JAHR DER FRAU_EN zu halten. Allein der Titel sagt einiges: JAHR DER FRAU_EN. Warum ist es so wichtig?

Die Stimmen, Perspektiven, Kunstwerke, Schriften von Frauen* werden in allen Institutionen unsichtbar gemacht. Und an dieser Stelle betone ich: sie werden unsichtbar gemacht. Es handelt sich um einen Prozess der Unsichtbarmachung. Oft, wenn wir das Wort „unsichtbar“ verwenden, entsteht der Eindruck, als wären Menschen einfach nicht da. Aber sie sind da, und sie kämpfen. Sie kämpfen für Anerkennung, für Raum und für Sichtbarkeit. Wer kein cis Mann ist, weiß, dass wir täglich um Raum kämpfen müssen. Sei es im Büro, Zuhause, auf der Straße, in der U-Bahn, im Park, im Flugzeug, in der Sauna. Überall. Und es geht um Macht. Wenn wir als Frauen* sozialisiert werden, lernen wir sehr früh, dass wir nicht so viel Platz einnehmen sollten. Und umgekehrt lernen auch diejenigen mit männlicher Sozialisation, dass ihnen mehr Platz zur Verfügung steht. Damit geht die Erkenntnis einher, dass diese Macht auf keinen Fall geteilt werden darf und geschützt werden muss. Und darüber möchte ich heute sprechen. Weil das der Kern des Problems ist. Macht.

Ich werde mich hier nur auf den Kunst- und Kulturbetrieb beschränken, obwohl diese Prozesse in allen gesellschaftlichen Sphären stattfinden – in der Wissenschaft, in der Politik, im Literaturbereich, etc. Ich werde mich innerhalb der LGBTQIA+ Bewegung auch nicht allein auf die Kategorie Frau konzentrieren, sondern auf alle intersektionalen Identitäten. Auf People of Color, auf trans*, gendernonkonforme und nicht-binäre Personen in feministischen Kreisen, auf behinderte Menschen in Bewegungen für soziale Gerechtigkeit. Auf alle, die diese Unsichtbarmachung täglich erleben. Und natürlich auch auf die Kehrseite der Unsichtbarkeit – nämlich die Über-Sichtbarkeit – also die Konstruktion von Universalsubjekten innerhalb unterschiedlicher Bewegungen: So z. B. weiße schwule cis Männer in der LGBTQIA+ Bewegung oder weiße hetero Mittelschichtsfrauen im Mainstream-Feminismus. Herrschaftssysteme werden in allen Gruppen reproduziert.

Innerhalb der feministischen Bewegung müssen z.B. trans* Menschen, Frauen* of Color und andere Minderheiten für Sicht- und Hörbarkeit kämpfen. Innerhalb der LGBTQIA+ Bewegung, ist es der Kampf von Muslim*innen, Refugees und behinderten Menschen gegen die Unsichtbarmachung.

Globale Kampagnen in US-Amerika und Europa für die gleichgeschlechtliche Ehe sind dafür ein gutes Beispiel: weiße cis Schwule waren die treibende Kraft oder wurden zumindest als die Protagonisten dargestellt. Die Interessen von anderen Queers wie z. B. der Zugang zu Wohnungen, der Zugang zu Arbeit oder zur Gesundheitsversorgung konnten nicht durchgesetzt werden. Sexarbeiter*innen, von Armut betroffene Queers, Refugees, trans* Menschen, sie alle profitieren kaum von der gleichgeschlechtlichen Ehe. Deswegen brauchen wir Intersektionalität. Es geht aber nicht nur darum, diese Normen und Archetypen zu dekonstruieren, sondern Normen neu zu definieren. Wenn eine trans* Frau of Color im Rollstuhl als Universalsubjekt dargestellt werden kann, dann haben wir die Norm dekonstruiert und neu definiert.

Hier möchte ich einige Statistiken aufführen[1]: 2008 entschied sich das Schwule Museum für einen Richtungswechsel. Aus dem exklusiv schwuler Geschichte und Kultur gewidmeten Haus, sollte eine intersektional agierende Institution werden, die queere Positionen und Perspektiven in ihrer Vielfalt und manchmal auch Widersprüchlichkeit zu präsentieren sucht und von der sich alle Menschen aus dem Regenbogenspektrum eingeladen fühlen. 10 Jahre später ist die Bilanz ernüchternd. Von 2008-2017 fanden fast 80 Ausstellungen statt. Knapp 50% widmeten sich wie gehabt „klassisch schwulen“ Künstlern, Protagonisten oder Sujets. 31% versuchten multiperspektivisch das gesamte Spektrum queerer Positionen zu repräsentieren, etwa die Ausstellung über queere Comic-Held*innen (SuperQueeroes, 2016) oder die große Überblicksschau Homosexualität_en in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum 2015. Nur 12 % aber, widmeten sich spezifisch lesbischen und nur 8 % trans* Geschichte(n) oder künstlerischen Positionen.

Im Dezember 2017 erschien die bisher größte empirische Studie über geschlechtliche Diskriminierung in der europäischen und US-amerikanischen Kunstwelt. Die Datenbasis: 2,7 Millionen Transaktionen aus der Zeit 2000-2017 von mehr als 1.000 Galerien mit mehr als 100.000 Künstler*innen. Nur 5% der erfassten Verkäufe beziehen sich auf Werke von Künstlerinnen*. Der Wert der verkauften Werke der beiden höchstdotierten Künstler Pablo Picasso und Andy Warhol übersteigt den aller erfassten Verkäufe von Künstlerinnen* zusammen und in der Top-Liga der internationalen Kunst findet sich keine einzige Frau*.

Um etwas gegen diese eklatante Ungleichheit zu unternehmen, die nicht nur das Schwule Museum, sondern auch die gesamte queere Community prägt, haben die Kurator*innen Dr. Birgit Bosold und Vera Hofmann für das Jahr 2018 beschlossen, ein gesamtes Jahresprogramm weiblichen* Perspektiven und Positionen zu widmen.

Aus ihrem Dossier: „Die Entscheidung, ein ganzes Jahr Budgets, Räume und unsere Arbeit und Zuwendung vor allem (queer-)feministischen und weiblichen* Perspektiven zu widmen, war Anlass heftiger Konflikte im Haus und sorgte für anhaltende Debatten in den queeren Medien und auf den Social Media-Kanälen: den einen zu wenig lesbisch, den anderen zu viel „esoterisch“ und wieder anderen gar ein Angriff auf die (schwule) Identität des Hauses. Dennoch war 2018 das erfolgreichste Jahr der Museumsgeschichte – noch nie fühlten sich mehr Menschen eingeladen und besuchten uns, viele von ihnen zum ersten Mal, und noch nie wurde so viel im und über das Haus diskutiert.“

Sexismus und Misogynie – als Beiprodukte des Patriarchats – sind fundamentale Instrumente der Macht. Sie wirken subtil und oft unerkannt oder eben explizit und aggressiv, wie der Backlash im Schwulen Museum zeigt. Er ging weit über die Unsichtbarmachung von Frauen* hinaus, bis hin zur expliziten Entwertung ihrer Perspektiven, Positionen und Kreativität. Leider ist auch bei weitem nicht nur die Handvoll Menschen involviert, die sich gegen das JAHR DER FRAU_EN gewehrt und so die eigenen Privilegien geschützt hat. Das System Patriarchat speist sich alles und jede*n auf seinem Weg ein, auch diejenigen, die sich nicht einmal bewusst sind, dass sie das System verstärken oder gar aufrecht erhalten: Zuschauer*innen, Museumbesucher*innen, Sammler*innen, Geldgeber*innen und Sponsor*innen, Kurator*innen, und die Liste geht weiter.

Gerade aufgrund der Allgegenwärtigkeit des Patriarchats – wie auch anderen Herrschaftssystemen – ist es so wichtig und nötig, auch exclusionary politics zu betreiben, oder non-mixité, wie es auf Französisch heißt. Sonst drohen sich die Herrschafts- und Unterdrückungsdynamiken unabsichtlich zu reproduzieren. Einfach nur, weil sie nach wie vor so mächtig sind. Niemand hat vor dem JAHR DER FRAU_EN öffentlich gesagt: „hier [im Schwulen Museum] bevorzugen wir die Perspektive des Mannes“; es war nicht von den „Dekaden der Männer“ die Rede noch wurden – in Bezug auf die USA – die „White History Months“ (plural) ausgerufen.

Identitätspolitik & Binarismus – JAHR DER FRAU_EN, und was ist mit gender fluidity?

Und jetzt zurück zur Frage der Identitätspolitik und, wenn wir über Queerness sprechen, auch zur Frage des Binarismus. Brauchen wir ein JAHR DER FRAU_EN in Zeiten der Geschlechterfluidität? Wird dadurch nicht die Binarität Mann/ Frau aufrechterhalten? Sollten wir nicht stattdessen versuchen, über solche Kategorien hinwegzukommen? Ist das JAHR DER FRAU_EN überhaupt Identitätspolitik? Ich würde sagen ja. Und das ist gut so. 

Identitätspolitik wird in den Mainstream-Medien allzu sehr vereinfacht. Systeme werden ausgeblendet und es geht nur noch um Menschen, die sich scheinbar in immer kleineren Grüppchen abschotten wollen. Aber Identitäten sind flexibel, kontextabhängig und reflexiv. Systeme schaffen Identitäten und nicht umgekehrt. Von Judith Butler haben wir viel über die Performativität der Sprache gelernt. Ich bin nicht Schwarz, ich werde Schwarz gemacht – von White Supremacy und Kolonialismus. Ich bin nicht queer geboren, sondern wurde vom Patriarchat, Binarismus und Heteronormativität queer gemacht. Eine behinderte Person wird von den gesellschaftlichen Strukturen und dem medizinischen System behindert, das die Normen „gesund“ und „befähigt“ konstruiert. Zu diesen Herrschaftssystemen zählen übrigens auch Kapitalismus und Rassismus. Trans*, nicht-binäre und gendernonkonforme Personen müssen ständig ihr Menschsein und ihren Wert behaupten, weil die rigide binäre Geschlechterordnung heftig von Institutionen, Gesetzen, dem Staat, aber auch ganz alltäglichen Menschen verteidigt und stabilisiert wird.

Unsere Identitäten werden auf uns projiziert, und nicht von uns gemacht. Und anhand dessen kann die Rückeroberung und Wiederaneignung unserer Identitäten zur Strategie der Befreiung werden. Hashtags wie #transisbeautiful oder #blackpower sind Beispiele dieser positiven politischen Mobilisierung von Identität. Ganz anders verhielte es sich mit #cisisbeautiful und #whitepower.

Ein Ziel der Identitätspolitik ist es, die eigene Unterdrückung in eigenen Worten zum Ausdruck zu bringen, basierend auf der kollektiv erlebten Erfahrung. Dies entspricht einem Prozess der Bewusstwerdung. Sich bewusst zu werden, dass die eigene Erfahrung nicht individuell, sondern kollektiv ist. Dieser Prozess führt zum Empowerment, zur Macht, die eigenen Narrative zu gestalten. Das ist die Kraft der Befreiung.

Es ist eine notwendige Etappe, auch wenn es kein Endziel ist. Die Anerkennung der Verbindung zwischen politischer Identität, Privilegien, Unterdrückung und Ungleichheit ist unerlässlich, um über Kategorien hinauszugehen. Um Systeme aufbrechen zu können, müssen wir zuerst überhaupt anerkennen und verstehen, dass und wie sie existieren. Deswegen brauchen wir Identitätspolitik und deswegen brauchen wir das JAHR DER FRAU_EN im Schwulen Museum.

ABER, Diskurse ändern sich und die Macht verschiebt sich. Dies fordert uns beständig auf, die Art und Weise anzupassen, in der wir Befreiungsbewegungen – und Identität – gestalten. Das Ausmaß, in dem unsere Identitäten in Befreiungsbewegungen anstelle der Systeme, die sie geschaffen haben, mobilisiert werden, wird unsere Kämpfe entweder schwächen oder stärken. Identitätspolitik ohne Intersektionalität heißt Systeme zu reformieren – aber nicht aufzubrechen.

Also jetzt zurück zur Frage der Macht: Wie können wir die Macht des Patriarchats niederschlagen? Indem wir Binarismus – die binäre Geschlechterordnung – dekonstruieren. Und wie geht das? In dem wir Platz machen, für all das, was im Patriarchat als mangelhaft und unterwürfig konstruiert wird: das Weibliche*. Die Hypermaskulinität und Marginalisierung von femme* Identitäten in queeren Räumen ist symptomatisch für eine unvollständige Dekonstruktion des Patriarchats. Es geht hier nicht um Geschlechtsausdruck, sondern um die verschiedenen Teile unserer Identität.

Die femmes* in uns – in cis Männern, in hetero Frauen*, in schwulen Männern – in uns allen, muss Raum gegeben werden, wir müssen sie wertschätzen und lieben, immer und überall!

17. Februar 2019
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[1]: Hofmann, Bosold: Dossier zum JAHR DER FRAU_EN, 2018.

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