EXTRA+TERRESTRIAL (119)

EXTRA+TERRESTRIAL ist eine Ausstellung, die visuelle und textuelle Figuren der „Otherness“ wiederaneignet – insbesondere die Hexe, den Alien, das Monster und den Cyborg. Die Erfahrung, das “Andere” zu sein, jenseits oder abweichend von heterosexuellen Gender- und Sexualitätsnormen, vereint ansonsten verschiedene Erfahrungen innerhalb von LGBTIQ* Communities. Unser kollektiver Widerstand gegen das „Othering“ nimmt viele Formen an: Von öffentlichen Boykotts, Nachbarschaftshilfegruppen, Protesten, physischem zivilem Ungehorsam und digitalen Störaktionen bis hin zu zwischenmenschlichem Fähigkeitsaustausch, Pflegearbeit und Unterstützungsnetzwerken, sowie persönlicher und spiritueller Arbeit, um sich emotional einer feindlichen Gesellschaft zu widersetzen. Dennoch ist dieser Widerstand durch historische und gegenwärtige soziale, finanzielle und politische Marginalisierung gerade für Frauen* erschwert – besonders Frauen* of color und beHinderte Frauen* – die, neben weiteren, ein „Othering“ entlang geschlechtsspezifischen Grenzen erfahren, sowohl innerhalb LGBTIQ* Communities als auch in der Gesellschaft generell. Diese Marginalisierung hat unsere Partizipation oder Teilhabe entweder vollständig ausgeschlossen oder sie als nicht wert erachtet, registriert zu werden. Jener sich selbst erhaltende Kreislauf resultiert in einen Mangel von Geschichte, Narrativen und Menschen, zu denen es sich aufschauen lässt und die das eigene Selbstempfinden lesbischer, bisexueller und queerer Frauen* formen – jenseits der entmenschlichenden Klischees von diesen Frauen als raffgierig, und sexuell nicht zu einer patriarchalen Machtstruktur zuordenbar.

Das Wiederaneignen und Rekonfigurieren der erschöpften Klischees, über die uns die Gesellschaft identifiziert, gibt Raum für Selbstidentifikation und Widerstand gegen gesellschaftliche Normen. Gleichzeitig bieten symbolische Tropen reichen Boden für zurückgewonnenes Selbstverständnis. Die Figur der Hexe war lange mit Weiblichkeit jenseits des Patriarchats, insbesondere mit Lesbianismus assoziiert. In europäischen und kolonialen historischen Kontexten kulminierte die Dämonisierung von Hexen in Hexenjagden, was eine gesellschaftliche Verschiebung in Richtung der epistemologischen Trennung von Körper und Geist, Natur und Mensch sowie Feudalismus und Kapitalismus markiert. Selbst jetzt werden Frauen als Hexen an Schauplätzen verurteilt, an denen globalistische Kräfte gegen historische Landverwalter arbeiten. Monster, zusammen mit Freaks, Bösewichten und Perversen, sind nur einige der gewaltvollen Beleidigungen, mit denen die Gesellschaft LGBTIQ* Personen konfrontiert.Und solche Assoziationen spielen gleichzeitig auf queer kodierte visuelle und narrative Tropen in Film, Fernsehen und Comics an. Der Alien, im Englischen bemerkenswerterweise sowohl „außerirdisch“ als auch „fremd“, wurde in queerer Theorie und kreativen Medien insbesondere von LGBTIQ* PoC als Allegorie für das Gefühl genutzt, entfremdet und separiert von einer heteronormativen Gesellschaft weißer Vorherrschaft zu sein. Cyborgs, Kreaturen, die wegen ihrer kombinierten menschlichen und technologischen Eigenschaften als verstörend und nicht ganz menschlich gelten, wurden als Allegorien des „Andersseins“ von u. a. Trans*- und beHinderten queeren Frauen* geltend gemacht, die Parallelen zwischen ihren Marginalisierungserfahrungen und körperlichen Modifikationen und Mobilitätserweiterungen sehen, die unentbehrlich für ihr Überleben sind.

Die Hexe, das Monster, der Alien und der Cyborg bewegen sich jeweils an der Grenze zwischen Fiktion und kontextueller Realität, populärer Karikatur und Angst, Unterdrückung und machtvoller Stärke. Sie haben die Fähigkeit, freiwillig ihre Gestalt zu wandeln, ihre Peiniger zu erschrecken, Macht in „Otherness“ zu finden und Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt zu üben. Da LGBTIQ-Frauen* in diese Rollen verbannt wurden, warum nicht aus deren inhärenter kultureller Kraft schöpfen und neue Narrative in dieser radikal subjektiven „Otherness“ schaffen? Die Hexen freunden sich mit dem Alien an und ihr Wissen (und ihre monströsen Tentakel) gestalten die Zukunft neu, indem sie die Flüche der fernen Vergangenheit auflösen. Die Gottheiten der Vergangenheit kehren zurück und verkörpern eine Queerness, die immer gegenwärtig war, aber jetzt neongrell entblößt ist. Lesbische Cyborgs, von ihrer Umgebung, ihrem Ritual und von einander gestützt, brechen die falsche relationale Binarität zwischen dem, was aus sich heraus nicht von diesem Planeten ist, und dem, was untrennbar an die Erde gebunden ist. Monster wandern zwischen uns in vielen Formen umher – digital, technisch, visuell, natürlich, gleichzeitig schrecklich und absolut vertraut.

Für LGBTIQ*-Personen an den Schnittstellen vielfach marginalisierter Erfahrungen ermöglicht die Wiederaneignung gruseliger, monströser, „fremder“ Figuren des „Anderen“ die Erfahrung eines vereinten Selbst und Körpers mit grenzenlosen Möglichkeiten der Identifikation und des Ausdrucks, anstatt sich zwischen verschiedenen Kontexten zu spalten, in die man niemals perfekt passen kann. COVEN BERLIN präsentiert EXTRA+TERRESTRIAL, eine Ausstellung mit Rahmenprogramm, die alternative Beziehungsformen zum „Selbst“ und zu „Anderen“ erforscht, indem sie die Identifikation mit populären Darstellungen des “Anderen” untersucht. Mit Kunstwerken zu queeren Genealogien, nicht-institutionellem Wissen, Ritualen, Unterdrückung, Wahrnehmung, Liebe und Sexualität durch Identifikation  mit Körpern und Charakteren, die nicht von dieser Welt sind und dennoch untrennbar an irdische Machtdynamiken geknüpft sind, erforschen wir die Grenzen der Wiederaneignung des „Anderen“ als Werkzeug des Widerstands.