1. Mond: Am Anfang die Mütter (003)

Der erste Mondzyklus im Programm der 12 Monde widmet sich den Beziehungen der Filmemacherinnen und Protagonistinnen zu ihren Müttern.

When I hear the deepest truths I speak coming out of my mouth sounding like my mother’s, even remembering how I fought against her, I have to reassess both our relationship as well as the sources of my knowing.

Audre Lorde

Die Figur der Mutter dient kulturgeschichtlich als vielfältig undifferenzierte Projektionsfläche. Sie muss als symbolischer Platzhalter für den Nationalstaat herhalten oder als Sinnbild für missglückte Überwindungsversuche des Ödipuskonflikts. Sie wird zum Inbegriff einer ‚authentischen Weiblichkeit‘ bei gleichzeitiger Abschreibung eines sexuellen Begehrens sowie zur Metapher für Natur und Vergesellschaftung zugleich. Auch in der Filmgeschichte finden sich unzählige stilisierte Darstellungen – von ihrer Glorifizierung bis zu ihrer Dämonisierung.

Mütter* sehen sich einer utopischen Vielzahl an Zuschreibungen und Pflichten ausgesetzt, die sie in Positionen zwingen, an deren Ansprüchen alle Beteiligten zwangsläufig scheitern müssen. Die Mutter*-Kind-Beziehung wiederum kann eine der bedeutendsten unseres Lebens sein und ist zugleich die erste, die in unseren gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen verletzt wird. Eine „gute“ Mutter* im falschen System kann es nicht geben. Zurück bleiben Verwundungen.

Der erste Mondzyklus nimmt sich dieser Verwundungen an. In fünf starken Filmen aus verschiedenen Teilen der Welt verhandeln Filmemacherinnen die Beziehungen zu ihren Müttern, teilen ihre Erfahrungen und geben Einblicke in ihre Gefühlswelten. Entstanden sind liebevolle sowie kritische Andenken und Auseinandersetzungen mit diesen ihnen nahestehenden und doch oft fremden Wesen. Mit hoher Sensibilität und konfrontierender Ehrlichkeit wird beider Verletzlichkeit im Versuch um gegenseitiges Verständnis offengelegt.

Mithilfe der Kamera, die ihnen als professionelle Distanz, aber auch als Portal in eine intime Welt dient, reflektieren die Filmemacherinnen ihr Tochtersein: das Bedürfnis nach Autonomie und Abgrenzung und den Wunsch nach Anerkennung. Verschiedene Lebensentwürfe stehen sich gegenüber, Unausgesprochenes kommt ans Licht, Momente von Versöhnung und Vertrautheit wechseln sich ab mit Momenten der Distanzierung. In diesen konkreten Mutter*-Tochter-Konflikten schwingen stets große gesellschaftliche Fragen mit.

Die Filmemacher*innen haben eigene Wege gefunden, ihrer Biografie zu begegnen und diese aufzuarbeiten. Durch ihre Arbeit sind sie sich selbst näher gekommen, in ihre Kraft und auch in ihre politische Handlungsfähigkeit. Mit ihren couragierten Werken laden sie uns dazu ein, unsere eigene Mutterwunde tiefer oder ganz neu zu betrachten.

Die Filmauswahl:

Matriarchy von Rosa Navarrete & Patricia Zamorano
USA, 2017, 10 Minuten, Englisch und Spanisch

Ein nichtlinear erzählter Poetry-Kurzfilm über eine aufsässige Chicana, die seit der Erkrankung ihrer Mutter hin- und hergerissen ist zwischen ihrem kriminellen Lebenstil und ihrer Nachfolge als Matriarchin der Familie.

Offizieller Beitrag Chicano International Film Festival 2017

Mothership Goes To Brazil von Josefin Arnell
Schweden/Niederlande, 2016, 27 Minuten, Schwedisch mit englischen UT

Aus einem abgebrannten schwedischen Wald bringt Josefin das Mutterschiff (ihre eigene Mutter) in die spirituelle Stadt Abadiania in Brasilien, um João de Deus zu treffen – einen der berühmtesten Heiler der Welt. Bei ihrer Ankunft liegt João de Deus aber im Krankenhaus. Eine Mutter-Tochter-Beziehung, infiziert mit Alkoholismus, Co-Abhängigkeit und Liebe.

Premiere auf dem International Documentary Festival Amsterdam 2016 – PARADOCS & Amsterdam Art Weekend

Ri Chang Dui Hua – Small Talk von Hui-Chen Huang
Taiwan, 2016, 88 Minuten, Taiwanesisch mit englischen UT

Zweifel an der Mutterliebe gilt in der taiwanesischen Kultur als ein Tabu. Anu ist ein Tomboy und hatte seit der Ehe mit ihrem gewalttätigen Ex-Mann, dem Vater ihrer Töchter, ausschließlich Beziehungen zu Frauen. Auf der gemeinsamen Reise in die Vergangenheit konfrontiert die Tochter ihre Mutter mit Fragen, die sie seit Jahren quälen. Die zwei Frauen besprechen Einsamkeit, Vertrauen und Missbrauch. Doch fast immer münden die Diskussionen in schmerzhafter Stille. Hui-Chen Huang zeichnet ein Bild von den sich wandelnden Lebenssituationen von Frauen aus drei Generationen in Taiwan.

Bester Dokumentarfilm, 31. Teddy Award
Offizieller Beitrag (Panorama), 67. Berlinale
Offizieller Beitrag, 53. Golden Horse Film Festival
Nominierung bester Dokumentarfilm, 53. Golden Horse Film Festival
Bester Schnitt , 53. Golden Horse Film Festival

Mutterstücke von Michaela Schäuble, Nan Mellinger, Sandra Kulbach, Johanna Straub
Deutschland, 2006, 58 Minuten, Deutsch mit englischen UT

Der vierteilige Dokumentarfilm vereint die Lebensentwürfe sehr unterschiedlicher Frauen um die sechzig. Der Film zeigt die verschiedene, mitunter auch verbindende Spurensuche von vier Töchtern, die sich ein Bild zu machen versuchen über die eigene Mutter und die gemeinsame Beziehung. Die Verknüpfung der Episoden erweitert das Projekt zu einem Generationsportrait, in dem es um Lebensläufe und Lebenswelten von Frauen geht, deren Einfluss auf die Gesellschaft ­– nicht beruflich, sondern als Mütter über die Erziehung ihrer Töchter – ebenso fundamental, wie lautlos und unsichtbar ist.

Gefördert mit den Mitteln der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Künstlerinnenprogramm 2005
Nominierung bester mittellanger Dokumentarfilm, Hot Docs International Documentary Film Festival 2007
Förderpreis der Thüringer Staatskanzlei, lm/video tage Koblenz 2007

I AM von Sonali Gulati
Indien, 2011, 71 Minuten, Englisch und Hindi mit englischen UT

Die indische, lesbische Filmemacherin kehrt nach 11 Jahren nach Delhi zurück, um sich mit dem Tod ihrer Mutter zu konfrontieren, bei der sie sich nie geoutet hat. Über Gespräche mit Eltern anderer homosexueller Inder*innen stellt sie zusammen, was Familie in einer Umgebung bedeutet, in der Homosexualität unter Strafe steht. Mit Mut, Entschlossenheit und Humor teilen Familien ihre Geschichten, die bis dahin im Stillen gehalten wurden.

Großer Preis der Jury ­­– Bester Dokumentarfilm, Indian Film Festival of Los Angeles 2011
Publikumpreis – Bester Dokumentarfilm, Philadelphia Asian American Film Festival
Bester Dokumentarfilm, Asian Film Festival of Dallas
Publikumspreis, Asian Film Festival of Dallas

Bester Dokumentarfilm, Fargo-Moorehead LGBT Film Festival
Bester Dokumentarfilm, Queer Lisboa Film Festival
Best Gay/Lesbian, Great Lakes International Film Festival
Spezialpreis der Jury, Kashish Film Festival Mumbai
Preis der Jury – Bester Dokumentarfilm, image+nation, Montréal LGBT Film Festival
Publikumspreis – Bester Dokumentarfilm, Bangalore Queer Film Festival
Preis der Jury – Bester Dokumentarfilm, Long Island Gay and Lesbian Film Festival